© DIE ZEIT, 19.10.2006 Nr. 43
Noch ist alles möglich
Der Pianist Ketil Bjørnstad schreibt einen Liebesroman über die Musik und ihre Kinder. Von Konrad Heidkamp
Am Anfang Musik, vielleicht Robert Schumann. Die Vindings gehen zum Stausee. Jeden Sonntag kitten sie ihre Familie mit gemeinsamem Essen, mit Wein, mit Baden, mit Reden, mit einem Picknick, dem letzten Versuch, eine Ehe zu retten. Bis es eines Tages geschieht, die Mutter wieder zu viel trinkt, beim Schwimmen abgetrieben wird, dem Sog zum Wasserfall nicht mehr entkommt, zu winken scheint und erst nach Tagen gefunden wird, auf den Steinen zerschmettert. So verzweifelt, so dramatisch beginnt die Geschichte eines sechzehnjährigen Jungen, seiner älteren Schwester und eines Vaters, dem die Liebe seiner Frau verloren ging. Wäre es ein Film, könnte bereits am Anfang Schlussmusik einsetzen, zu stumm schreienden Mündern Brahms ertönen.
Der norwegische Schriftsteller und Jazzpianist Ketil Bjørnstad bewegt sich seit Jahren durch zwei Welten, schreibend und spielend, und hat mit
Til Musikken, so der Originaltitel, beides verbunden. Einen Musikerroman mag man das kaum nennen, obwohl es um einen jungen Pianisten geht, der in der klassischen Musik lebt; einen Adoleszenzroman ebenso wenig, obwohl die Spanne zwischen träumerischer Faszination und handgreiflicher Praxis auf jeder Seite spürbar ist.
Vindings Spiel ist ein Roman, der so musikalisch wie erotisch ist, ständig liest man in der Angst und Erwartung, dass etwas passieren wird.
»Wir werden immer für euch da sein, ob ihr wollt oder nicht«, stellt die Mutter sachlich fest, und so wird die Geschichte zur Suche nach einem Versteck vor den Hoffnungen der anderen. Nach dem Tod der Mutter lässt sich Catherine, die achtzehnjährige Schwester, mit einem Kunstprofessor ein, verschwindet jeden Tag im gelben Haus, heimlich beobachtet von ihrem Bruder. Der Vater verwaltet seine Immobilien und treibt langsam in den Ruin, beschwört abends seine tote Frau, indem er Ravel, Debussy, Bach, ihre Lieblingsschallplatten auflegt. Aksel, der Sohn, schmeißt das Gymnasium, verkriecht sich in die Musik, übt jeden Tag sechs Stunden, um Wettbewerbe zu gewinnen. Jeder sucht nach seinem eigenen Abgrund, der vorher verdeckt war durch die nervöse Präsenz der Mutter.
Es sind kurze Sätze, die Bjørnstad setzt, Wörter als Töne, Akkorde, dann wieder lange Melodien, die auf einem Wort enden und mit einem neuen Satz weiterziehen. Es ist die Komposition, die dem Buch seinen Rhythmus verleiht. Jede Begleitstimme, jedes Nebenthema bleibt sichtbar, klar und einfach. Kein Verschwinden, kein Schwadronieren, sondern ein Aufdröseln von Themen, von Melodien, und davon gibt es viele. Da ist die Gruppe »Junge Pianisten«, jene Sekte von sehnsüchtigen großen Kindern, die in den späten sechziger Jahren debütieren wollen: die reiche, perfekte Rebecca, die zupackende Margarethe, der blasse Ferdinand und vor allem jene grünäugige, schmale Anja Skoog, die zurückgezogen übt und die für Aksel zum Inbegriff Fleisch gewordener Musik wird. Ihr Vater schirmt sie ab, vermittelt den Unterricht durch die legendenumwobene Konzertpianistin Selma. Die immer dünner werdende Anja lässt alles mit sich geschehen, nimmt alles »todernst«, flüchtet in die Krankheit, als überdeutlich wird, dass ihr Vater sie in jeder Form benützt.
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Wer spielt für wen? Für den Vater, die Mutter, für sich selbst, für die Geliebte, den Lehrer, für eine Berührung oder einen Blick? Als Rebecca auf dem Weg zum Flügel über ihr langes Kleid stolpert und stürzt, ist der Traum zu Ende, der ein Albtraum war. »Als ich auf dem Boden gelegen habe, war ich glücklich wie ein Kind.« Die anderen machen weiter, haben mit der schwierigsten aller Situationen zu kämpfen, »die Erwartungen der anderen zu enttäuschen«. Die Gruppe zerfällt in die Liebhaber von Musik (»Wir sind sechzehn Jahre alt. Die Musik denkt für uns. Sie spricht für uns. Wir sind die Finalisten«) und die Besessenen, von denen die mephistophelische Selma Lynge sagt: »Nichts ist anormal, wenn es um klassische Musik geht, mein Lieber. Das ist eine Arena für Krüppel und Genies.«
Vindings Spiel könnte ein Künstlerroman sein und liest sich doch wie jedermanns zweite Heimat, der Abschnitt eines Lebens, in dem alles gleichzeitig existiert, junge Mädchen und ältere Frauen gleich begehrenswert sind. Anja ist Phantom und Freundin, die reale Rebecca wäre Aksels Rettung und bleibt fern, Margarethe ist ihm fremd, und doch geht er mit ihr ins Bett, vor der Pianistin Selma mit ihrem Hang zu jungen Männern hat er Angst und wird am Ende willig ihr Opfer. Es ist alles vorhanden, jeder Irrtum kann in jedem Moment Glück bedeuten.
Nach dem enttäuschenden, überladenen Epochenepos Villa Europa und seinen klarsichtigen Büchern Erlings Fall und Der Tanz des Lebens berührt einen Ketil Bjørnstad erneut wie seine frühe Musik. Zum Greifen und Fühlen nahe.
© DIE ZEIT, 19.10.2006 Nr. 43